Last Days of November
Es gibt Menschen, die sagen, dass sich in Südschweden die landschaftliche Vielfalt des gesamten Königreiches widerspiegelt, quasi Schweden im Kleinformat. Logisch, dass wir uns davon selber ein Bild machen wollten. So haben wir unsere Bikes ins Wohnmobil gepackt, sind in Richtung Norden aufgebrochen – und mussten feststellen, dass man nicht immer alles glauben soll was so erzählt wird!
„Redaktionssitzung!“, rufe ich laut. Wir versammeln uns um den großen Konferenztisch. „Okay, was wissen wir über Schweden?“ „Heimat von Abba, Kurt Wallander und Pipi Langstrumpf!“, weiß Mark. „Teil Skandinaviens, parlamentarische Monarchie, der König heißt Carl Gustav, die Königin Silvia!“, ergänzt Lennart. „Sie haben Volvo, Ikea und das Knäckebrot erfunden!“, ruft Mark weiter. „Zlatan Ibrahimović, Astrid Lindgren und der Nobelpreis stammen aus Schweden!“, wirft Lennart nun wieder in den Raum. Die beiden kommen richtig in Fahrt. „Schwedische Spezialitäten sind Pfefferkuchen, Zimtschnecken, Glögg und natürlich Köttbullar!“, ruft Mark.
„Luftlinie von uns bis zur schwedischen Küste: nur 200 Kilometer. Damit befinden wir uns hier in Kiel geografisch näher an Schweden als an Hannover“, erklärt Lennart, während er eifrig in der Karten-App herumklickt. „Und es gehören sage und schreibe rund 221.800 Inseln zu Schweden!“ „Wow!“, entgegne ich. „Und was sagt dein Smartphone zum Thema Mountainbike?“ „Extrem beliebt dort, es gibt jede Menge Trails und Bikeparks mit einer sehr aktiven Szene. Und das Beste: Es geht schon in Südschweden los!“ „Alles klar!“, rufe ich. „Dann mal raus aus der Komfortzone und ab in den kühlen Norden!“ „Wollten wir nicht raus aus der Komfortzone?“, flachsen die anderen, als ich am Tag der Abreise mit einem Hymer-Wohnmobil auf den Parkplatz rolle. „Ja, natürlich!“, lass ich sie ins Leere laufen. „Aber wo stände die Menschheit heute, hätte sie sich nicht konsequent den technischen Fortschritt zu Nutze gemacht?!“ Und so packen wir unsere Bikes in die gediegene Heckgarage unseres Hymers und machen uns auf den Weg in für uns unbekannte Gefilde. Für Mountainbiker beginnt der Spaß direkt hinter der Grenze in Skåne, der südlichsten Provinz Schwedens. Wir haben einen Tipp bekommen, etwas oberhalb von Helsingborg, auf der Kulla-Halbinsel, soll es einen Spot geben, der interessant sein könnte. Jacob, Local und Hotelier, hat uns eingeladen, eine Runde über seine Hometrails zu shredden. „Normalerweise haben wir viele Wanderer und Spaziergänger hier“, erzählt er uns am Telefon, „aber im Moment sind die Wälder menschenleer, wir können also richtig Gas geben!“ Das klingt doch nach einem Ausflug nach unserem Gusto. |
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Will man in Richtung Skandinavien durchstarten, befindet man sich in Norddeutschland in der Pole Position. Genau so müssen sich die Münchener fühlen, wenn sie an Italien denken. Unser Riva del Garda liegt hinter der dänischen Grenze, heißt Blåvand oder Henne Strand und taugt sogar für einen Tagesausflug. Nach nur einer Stunde Fahrzeit sind wir in Dänemark, und schlagartig setzt Urlaubsfeeling ein. Landschaft und Leute machen auf bemerkenswert angenehme Weise gute Laune. Wir cruisen entspannt auf der Autobahn, ein strammer Ostwind rüttelt an unserem Hymer, das stoisch seine Bahn zieht.
Allein die Hinfahrt ist ein echter Knaller. Hinter Kolding verlassen wir Jütland, das dänische Festland, und biegen rechts ab auf die Inseln. Die erste Brücke führt über den kleinen Belt auf die Insel Fünen. Nach 80 Kilometern folgt die zweite Brücke, sie spannt sich über den großen Belt. Hier ist die erste Maut zu entrichten, die grandiose Überfahrt lässt man sich gut bezahlen. Wir kommen auf die Insel Seeland, auf der sich auch Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen befindet. Nach rund 100 Kilometern, kurz hinter Kopenhagen, erreichen wir die Öresundbrücke, die ebenfalls mautpflichtig ist, auf der anderen Seite liegt bereits Malmö, Schweden. Gerade einmal 430 Kilometer zeigt der Zähler an, ein Katzensprung für uns. Von Malmö sind es dann noch einmal rund 100 Kilometer nach Mölle, gelegen auf der Kullen-Halbinsel, unserem Ziel. Jacob erwartet uns bereits am Grand Hôtel, ein mondäner Bau, mit großartigem Blick auf den traditionsreichen Badeort Mölle. Mit rund fünf Grad ist es zwar nicht gerade warm, es herrscht allerdings auch kein arktischer Winter. „Das Meer wirkt wie ein großer Wärmespeicher,“ klärt uns Jacob auf, „deshalb ist es hier auch im Winter nie besonders kalt. Wenn Schnee fällt, dann nur wenige Zentimeter, und er bleibt höchstens für zwei, drei Tage liegen. Jahre, in denen es überhaupt nicht schneit, gibt es immer wieder.“ Dass in diesem Moment niemand das Wort „Komfortzone“ in den Mund nimmt, kann nur an meinem strengen Rundumblick liegen. Ein freches Grinsen können sich Mark und Lennart aber nicht verkneifen während wir die Räder auspacken und aufbrechen. |
Schweden, Ende November. Sicher nicht das Erste, was einem beim Betrachten dieses Bildes einfällt. |
„Die Gegend um den Kullaberg ist eine sehr beliebte Urlaubsregion“, erklärt uns Jacob, während wir durch den Ort fahren. „Es ist Naturschutzgebiet und landschaftlich außergewöhnlich vielseitig. Deshalb ist hier im Sommer auch jede Menge los.“ Heute, an einem der letzten Tage im November, haben wir den Wald für uns. Eine dicke Laubschicht bedeckt den Boden, der Trail verschwindet meistens darunter. Jacob kennt hier jedoch jeden Zentimeter und prescht zielstrebig los. Wir hinterher, zunächst einmal steil bergauf, hinauf auf den Kullaberg. 188 Meter ist er hoch, oben genießen wir den 360-Grad-Rundumblick. Die anschließende Abfahrt ist schnell und flowig, wir rauschen entspannt ins Tal. Die kahlen, grauen Bäume, die braunen Blätter auf dem Boden, fühlt sich an wie zuhause, alles wie in Deutschland. Es geht weiter, gekonnt angelegte Serpentinen führen bergab, der Grip ist trotz Blattwerk überraschend gut.
Wir nähern uns dem Meer, der Trail führt entlang einer schroff abfallenden Steilküste und schärft die Sinne. Bis zu 70 Meter hoch sind die Klippen, die auch bei Kletterern sehr beliebt sind. Die Wellen des Kattegats rauschen energiegeladen an die Küste, haben markante Spuren hinterlassen. Ein bisschen erinnert die Szenerie an die zerklüftete Westküste Irlands.„Gehört das Kattegat eigentlich zur Nord- oder zur Ostsee?“, möchte Mark von Jacob wissen. „Das kommt darauf an, wen man fragt“, antwortet Jacob augenzwinkernd. „Die einen sehen es als einen Arm der Ostsee, die anderen als einen Arm der Nordsee. Nach skandinavischer Auffassung ist es allerdings keines von beiden. Es ist ein eigenständiges Meeresgebiet, bei Seefahrern gefürchtet, weil es aufgrund vieler Untiefen sehr schwierig mit dem Schiff zu durchfahren ist. Daher auch der Name. Die Kapitäne sagten früher, das Kattegat sei so eng wie ein Katzenloch. Die vielen Wracks, die hier auf dem Meeresboden schlummern, sind der beste Beleg für diese Einschätzung!“ |
Träumchen: Die Komfortzone verlassen ohne die Komfortzone zu verlassen. |
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Wir fahren ein Stück weiter und machen eine Rast an einem großen Parkplatz. Heute parkt hier genau ein Auto. Hinten links geht der Weg weiter, markiert mit einem grünen Zeichen. „Für uns als Mountainbiker ist es nicht einfach, neue Strecken anzulegen, schließlich handelt es hier um ein Naturschutzgebiet“, erzählt Jacob. „Wenn man aber behutsam vorgeht und kompromissbereit ist, kann man hin und wieder das Netz erweitern.“ Jacob schwingt sich wieder in den Sattel. „Im Grunde sind wir aber auch sehr zufrieden mit dem, was wir bereits haben!“
Die Landschaft ändert sich, wir müssen zwischen blanken Felsen hindurch, die zum Teil moosbewachsen sind. Der Northshore Kanadas lässt grüßen! Teilweise ist es eng und technisch, insgesamt ist die Strecke aber stets gut und entspannt zu fahren und ohne Weiteres auch für wenig geübte Biker zu empfehlen. Der Weg führt zu einem Gatter, auf der Wiese dahinter weiden Schafe. Einsamen Bäume zeigen nach Lee, ihr Wachstum ist geprägt von der vorherrschenden westlichen Windrichtung. Das karge Land, das dichte Gras, plötzlich wähnen wir uns in den schottischen Highlands. Fehlt nur noch, dass ein Dudelsackspieler um die Ecke kommt. Auf dem grünen, kompakten Teppich geht es weiter, der Blick von hier oben aufs Meer ist phänomenal. Jetzt folgen wieder Trails, wurzelig und extrem griffig, schnell rollen wir dahin, vereinzelt fühlt sich ein Schaf gestört und trabt genervt davon. |
Kein Bock auf Feierabend: Noch reicht das Licht am Kattegat. |
Hinter der nächsten Kuppe sehen wir bereits den Leuchtturm, Kullens Fyr. Stolz thront er auf den Klippen, die Szenerie könnte britischer kaum sein. „Wahnsinn, zuerst sah es aus wie bei uns, dann wie in den Wäldern Kanadas, jetzt sind wir hier in Schottland. Das ist ziemlich beeindruckend!“, sagt Lennart, während er sich umsieht. „Und warte mal ab, jetzt geht es auch noch runter ans Mittelmeer!“, ruft Jacob und biegt einen steilen Trail nach links ab. Vor uns öffnet sich eine Bucht, wie sie ohne Probleme auch auf Mallorca für Bewunderung sorgen würde.
Ein staubiger Trail führt hinab ans Wasser, links und rechts türmen sich kolossale Wände auf, das Ganze wird beleuchtet von einer tief stehenden Sonne. Wir stoppen auf einem Felsvorsprung und lassen den Eindruck wirken. „Das ist das Besondere an der Kullen-Halbinsel“, unterbricht Jacob die Stille, „man hat hier auf engstem Raum die unterschiedlichsten Landschaften. Und ich denke, dass es nicht nur ein Streifzug durch Schweden ist. Für mich findet man hier die Vielfalt der ganzen Welt, die ganze Welt in einer Nussschale.“ Den letzten Anstieg hinauf zum Leuchtturm schieben wir, Treppenstufen sind hier in den Hang eingelassen. Als wir nach kurzer Zeit oben angekommen sind, nimmt die Sonne langsam Abschied. Ein antikes Leuchtfeuer neben dem Leuchtturm Kullens Fyr führt uns vor Augen, wie eng verbunden Vergangenheit und Gegenwart sind, genauso wie Kullaberg uns gezeigt hat, wie nah die Welt zusammenliegen kann. Ohne Wehmut blicken wir hinaus aufs Kattegat, denn wir sind bestimmt nicht zum letzten Mal hier gewesen. Ist ja wirklich nur ein Katzensprung. Text & Bild: Andreas Sawitzki |